Artikel erschienen am 14.12.2015
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Dr. Yellen oder wie wir lernten, die Schulden zu lieben

Von Karsten Pohl, Paderborn

Wie viele Schulden verträgt die Weltwirtschaft? Diese Frage drängt sich bei der Analyse der Schuldenentwicklung von Staaten und privatem Sektor auf. Global betrachtet ist in den letzten Jahren sowohl die Staatsverschuldung als auch die private Verschuldung angestiegen.

Staatsverschuldung in den G7-Ländern

Bei näherer Betrachtung gab es einen Anstieg der staatlichen Verschuldung allerdings nur in den Industrieländern und nicht in den sog. Schwellenländern (Emerging Markets). Auslöser für diesen Anstieg war der starke Wirtschaftseinbruch 2007/2008. Als Reaktion darauf hatten die Staaten sowohl klassische Konjunktur­programme als auch Banken­rettungs­program­me aufgelegt, die durch neue Kredit­aufnahmen finanziert wurden.

Schuldenstand der Staaten (in % des BIP). Quelle: AMECO-Datenbank EU-Kommission; *Kanada: Daten für 2006 und 2009.

Kredite an den Staat (in % des BIP). Quelle: BIZ, DZ BANK AG (Daten für TOP 15 – Schwellenländer und Industrieländer).

Schuldentragfähigkeit der Staaten

So ist die Staatsverschuldung in den G7-Ländern von etwa 80 % des Brutto­inlands­produktes (BIP) im Jahr 2007 bis zum Jahr 2011 auf rund 120 % gestiegen. Seitdem hat sie sich auf diesem Niveau stabilisiert. Die Entwicklung in den G7-Ländern war zwar nicht völlig einheitlich, aber die Staats­verschuldung ist in allen G7-Ländern angestiegen. Im Unterschied dazu hat sich die Staats­verschuldung der Schwellen­länder im selben Zeitraum nicht nennenswert verändert.

Grundsätzlich sind Schulden nichts Schlechtes. Ab einer bestimmten Höhe können Schulden jedoch destabilisierend wirken. Die Frage ist nun, ob der starke Anstieg der Verschuldung bereits eine destabilisierende Wirkung auf die Länder ausübt.

Bedeutung der Zinslast

Von einer Destabilisierung müsste gesprochen werden, wenn die Zinsausgaben der Länder stark ansteigen und damit ihr finanzpolitischer Handlungs­spielraum merklich eingeschränkt wird. Fakt ist aber, dass die Zinsausgaben (gemessen in % des BIP) mit Ausnahme von Italien so gut wie nicht gestiegen sind. In einigen Ländern, darunter Deutschland, haben sie sich sogar trotz steigender Schuldenstände spürbar verringert, da die Zinssätze, die die Staaten zahlen müssen, gefallen sind.

Zinsbelastung der Staaten (in % des BIP). Quelle: AMECO-Datenbank EU-Kommission; *Kanada: Daten für 2006 und 2010.

Ist also durch den Rückgang der Zinssätze die Schuldentragfähigkeit der Länder angestiegen, sodass eine steigende Staatsverschuldung kein Risiko für die Stabilität darstellt? Und wie verhält es sich, wenn die Zinssätze einmal wieder ansteigen?

Die Höhe der Zinsen wird im Wesentlichen bestimmt von den Zentralbanken sowie den Risikoprämien, die Kapitalanleger einfordern. Letztere waren während der Staatsschuldenkrise stark auseinandergelaufen. Für einzelne Euroländer war die Risikoprämie so stark angestiegen, dass diese sich an den Märkten nicht mehr refinanzieren konnten. Nur die eingeführten Rettungsprogramme und das beherzte Eingreifen der EZB konnten einen Zahlungsausfall verhindern. Für andere Länder, darunter Deutschland, waren die geforderten Risikoprämien dagegen gesunken.

Einfluss der Geldpolitik auf die Zinslast

Seitdem die EZB nun Staatsanleihen aufkauft, sind die Risikoprämien für alle Euroländer wieder deutlich gesunken und bewegen sich auf niedrigen Niveaus seitwärts. Ähnliche Liquiditätsprogramme gab es auch in den USA, in Großbritannien und Japan und sie haben auch dort zu einem Rückgang der Risikoprämien beigetragen.

Die zentrale Bestimmungsgröße von Zinsen und Renditen ist jedoch die Politik der Notenbanken, d. h., das von ihnen gesetzte Niveau der Leitzinsen. In den letzten Jahren haben die Notenbanken die Leitzinsen sehr stark gesenkt. Seit 2008 liegen sie fast überall nahe null. Entsprechend haben sich auch die Geldmarktsätze und die Renditen deutlich nach unten bewegt. Die zusätzlichen Liquiditätsmaßnahmen der Notenbanken (Quantitative Easing = QE) haben den Rückgang der Risikoprämien weiter verstärkt.

Verschuldung Privatsektor

Die extrem niedrigen Notenbankzinsen erleichtern es nicht nur Staaten, sich zu finanzieren. Auch Unternehmen und private Haushalte – der sog. „nicht-finanzielle Privatsektor“ – können sich günstiger verschulden. Unternehmen spüren die höhere Risikobereitschaft der Investoren unmittelbar, da risikolose Anlagen kaum noch auskömmliche Renditen einbringen. Dieses positive Umfeld wurde sowohl von Unternehmen als auch von Privathaushalten entsprechend genutzt. Global ist die Verschuldung des nicht-finanziellen Privatsektors in den letzten Jahren ebenfalls gestiegen.

Differenziert man nach Industrieländern und Schwellenländern, dann wird allerdings sichtbar, dass der Anstieg der privaten Verschuldung in den Schwellenländern wesentlich stärker war als in den Industrieländern. In den Industrieländern fand teilweise sogar ein Abbau der zuvor kräftig aufgebauten privaten Verschuldung statt. Dies ist gleichsam das Spiegelbild der Entwicklung der staatlichen Verschuldung, die in den Industrieländern wesentlich stärker angestiegen ist als in den Emerging Markets.

Kredite an den Privatsektor (in Mrd. €). Quelle: Datastream, DZ BANK AG.

Fazit: Schulden global gestiegen

Summa summarum sind die Schulden global deutlich gestiegen. Die äußerst niedrigen Notenbankzinsen haben es für Staaten, Unternehmen und private Haushalte wesentlich leichter gemacht, sich zu verschulden. Und die drei Sektoren haben dies auch genutzt, um ohne nennenswerten Anstieg der Zinsbelastung ihre Verschuldung z. T. kräftig zu erhöhen.

Schuldentragfähigkeit hängt elementar von Zinsbelastung ab

Welches Niveau an Gesamtverschuldung die Weltwirtschaft verträgt, hängt im Wesentlichen von der Zinsbelastung ab. Der Anstieg der Verschuldung, den letztendlich die Notenbanken ermöglicht haben, war für die Stabilisierung der Weltwirtschaft äußerst hilfreich. Jedoch ist auch klar, dass mit steigenden Zinsen die Schuldentragfähigkeit der Staaten und Unternehmen wieder fällt. Strukturell schwächere Länder und Unternehmen würden bei einem steigenden Zinsniveau in Schwierigkeiten kommen. Sollten die Investoren dann auch wieder höhere Risikoprämien verlangen, würde dies zu einem zusätzlichen Anstieg der Zinsbelastung führen.

Dilemma der Notenbanken

Diese Überlegungen verdeutlichen das Dilemma der Notenbanken. Die amerikanische Notenbank spricht nun schon seit mehr als einem Jahr ernsthaft über Zinsanhebungen. Ein ähnliches Muster ist bei der Bank of England zu beobachten. Das Zögern der großen Notenbanken dürfte größtenteils auf die Sorge zurückzuführen sein, dass Zinsanhebungen die Schuldentragfähigkeit der Wirtschaft belasten.

Zinserhöhung birgt Risiken für Wirtschaftswachstum

Aber ist es tatsächlich so, dass die Zinsen, nachdem sie historische Tiefststände erreicht haben, sogleich wieder steigen müssen? Richtig ist, dass eine zu lange durchgehaltene Niedrigzinspolitik Gefahren bergen kann. Wenn die Inflationsentwicklung sich dann doch schneller als erwartet beschleunigt, wäre es nicht mehr mit kleinen Zinsschritten getan, sondern es müsste mit kräftigen Zinsanhebungen gegengehalten werden, die unvermeid-­lich eine stärkere Abkühlung der Weltwirtschaft auslösen könnten.

Entwicklung der Inflation entscheidend

Die wesentliche Frage ist, wie wahrscheinlich eine solche Inflationsbeschleunigung ist. Zurzeit ist die Inflation – bedingt vor allem durch den Ölpreis – fast überall niedrig. Das Wirtschaftswachstum und die Lohnentwicklung deuten ebenfalls nicht auf eine schnelle und nachhaltige Inflationsbeschleunigung hin. Insofern sollten die Notenbanken sich nicht gezwungen fühlen, mit einem deutlichen Zinsanhebungszyklus zu beginnen.

Solange die Inflation nicht wesentlich über die Inflationsziele der Notenbanken steigt – i. d. R. in der Nähe von 2 % – ist es durchaus vertretbar, sehr zurückhaltend mit Zinsanhebungen zu bleiben. Die Hoffnung scheint zu sein, dass die weltweite Schuldenlast durch eine maßvolle Inflation langsam (real) abgebaut wird. Sollte die Lohnentwicklung weiter so moderat wie in den vergangenen Jahren bleiben, erwarten wir, dass ein plötzlicher und starker Anstieg der Inflationsraten ausbleibt. Insofern müsste dieses Risiko keine Priorität in den Überlegungen der Notenbank haben.

Ausblick: Zinsniveau bleibt voraussichtlich niedrig

Damit gewinnt ein Szenario zunehmend an Bedeutung: Die Notenbanken könnten auch in den kommenden Jahren die Zinsen auf einem sehr niedrigen Niveau belassen bzw. mögliche Zinsanhebungen sehr langsam und flach vornehmen. Diese Notenbankpolitik könnte bis zum Ende des laufenden Zyklus durchgehalten werden. Dies würde bedeuten, dass eine Normalisierung des Zinsniveaus erst ab 2020 vollzogen würde. Danach, im nächsten Wachstumszyklus, könnte die Notenbankpolitik wieder zu einer normalen, „lehrbuchmäßigen“ Zinspolitik zurückkehren.

Dies ist zwar noch nicht sicher, jedoch wird dieses Szenario immer wahrscheinlicher. Für die Notenbanken wäre eine solche Politik eine Gratwanderung. Einerseits ist die Gefahr einer schnellen Inflationsbeschleunigung niemals vollständig zu leugnen und damit die Gefahr, dass die notwendigen starken Gegenmaßnahmen die Weltwirtschaft abermals destabilisieren könnten. Andererseits, wenn die Notenbanken diese Politik erfolgreich umsetzen, hätten wir die Möglichkeit, die in der Wirtschaftskrise entstandenen Ungleichgewichte langsam abzubauen und mit einer gesünderen Wirtschaftsstruktur den nächsten Aufschwung zu beginnen.

Letztendlich wird der Kapitalanleger somit noch lange Zeit auf einen auskömmlichen „risikolosen“ Zins verzichten müssen.

Bild: Panthermedia/Mike Espenhain

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