Artikel erschienen am 01.05.2012
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Was hat Mundgesundheit mit der allgemeinen Gesundheit zu tun?

Von Thomas Blumenberg, Braunschweig

Ist es sinnvoll, bei allgemeinen Gesundheitsproblemen auch den Zahnarzt zu konsultieren?

Wenn die Ursachenforschung z. B. bei allgemeiner Abgeschlagenheit, Rückenproblemen oder Kopfschmerzen keine klare Diagnose ergibt, kann es Sinn machen, auch einmal die Mundgesundheit zu checken. Hier kann die Balance zwischen Zähnen, Muskeln, Kiefergelenken und nicht zuletzt der Mobilität der Schädelknochen gestört sein. Das Bild der craniomandubulären Dysfunktion, kurz CMD, tritt zutage.

Es sind dann Zahnarzt, Orthopäde, Physiotherapeut und Osteopath in einem komplexen Behandlungsnetzwerk gefragt. In dieser Konstellation kann vielen Patienten zumindestens eine Linderung ihrer Probleme verschafft werden. Häufig sind sie auch ganz aufzulösen. Der Weg hierzu führt meist über ein funktionstherapeutisches Aufbissbehelf und/oder ein Training der Kaumuskulatur mittels Biofeedback (Grind Care) in Kombination mit manueller Therapie. Der dauerhafte Therapieerfolg kann dann meist mit einer Rekonstruktion der Zahnhöhe gesichert werden.

Es gibt aber auch Patienten, bei denen es nicht wie geplant läuft. Die Abgeschlagenheit oder die chronischen Schmerzen bleiben.

Gibt es noch Lösungsansätze, die der Zahnarzt in Betracht ziehen kann?

Hier tut sich das Feld der Umweltmedizin auf. Der Mensch ist in der heutigen Zeit einer zunehmenden Zahl von Reizen und Triggern ausgesetzt, mit denen sich sein Immunsystem auseinandersetzen muss. Seien es Kosmetik, Zusätze in Nahrungsmitteln, Weichmacher, Putzmittel, Schimmelpilze – die Liste ist sehr lang. Das Immunsystem ist hier gefragt, die individuelle Toleranz auf diese per se kaum bedrohlichen Reize zu erhalten. Diese Toleranzfunktion kann überlastet sein, vor allem, wenn dann auch noch die Zahnmedizin mit einer Vielzahl von Fremdmaterialien zu dieser Reizvielfalt beiträgt. Es werden z. B. bei Füllungen oder Zahnersatz Fremdstoffe in den Körper eingebracht. Diese Stoffe müssen permanent und dauerhaft vom Immunsystem des Patienten „geprüft“ und als „tolerierbar“ erkannt werden, was letztendlich eine Belastung des Regulationssystems darstellt. Bei Toleranz gegenüber den Substanzen ergeben sich keine augenscheinlichen Probleme. Bei individueller Intoleranz jedoch (z. B. bestehenden allergischen Sensibilisierungen) antwortet das Immunsystem mit einer lokalen und/oder einer systemischen Entzündung.

Eine normale Entzündungsantwort auf einen lokalen Reiz, z. B. einen Stachel im Finger, kann man sich in immunologischem Sinne als einen Balanceakt auf einer Wippe vorstellen. Zuerst kommt die Abwehr, die mit proentzündlichen Stoffen die Abwehrreaktion startet und so den potenziell schädigenden Reiz bekämpft. Später kommen dann die antientzündlich wirkenden Mediatoren dazu. Diese limitieren die Abwehrreaktion und lassen die Symptome abklingen.Der Stachel eitert heraus. Das System ist wieder im Gleichgewicht.

Bei der chronischen Entzündung ist die Wippe nicht mehr im Gleichgewicht. Die proentzündlichen Mediatoren überwiegen und sind hinsichtlich ihrer Effekte nicht mehr durch ihre Gegenspieler zu begrenzen.Der Patient neigt zu weiteren chronischen Entzündungen. Die Immunabwehr ist permanent aktivert, was evolutionär nicht vorgesehen ist. Während der Immunreaktion wird die Muskelaktivität gesenkt, um für das Abwehrsystem genügend Energie bereitzustellen. Man wird müde und der Bewegungsdrang wird automatisch eingeschränkt. Normalerweise endet die Immunantwort nach wenigen Tagen und man ist wieder fit. Bei einer chronischen Entzündung ist dies nicht der Fall. Im zahnärztlichen Bereich kann ein solcher Prozess nicht nur durch eingebrachte Fremdmaterialien unterhalten werden, sondern auch durch eine Zahnfleisch- oder Wurzelentzündung entstehen.

Allergische Sensibilisierung ist der häufigste Grund, wenn unser Immunsystem auf Fremdmaterialien mit einer Entzündung reagiert. Hierbei handelt es sich meist um eine Typ-IV-Reaktion, den Spättyp der al­lergischen Reaktion.

Als Beispiel hierfür sei das Kontaktekzem bei einer Nickelallergie angeführt. Diese Art der Reaktion des Immunsystems kann bei Kontakt mit Metallen oder in Dentalkunststoffen enthaltenen Acrylaten vorkommen, wenn der Patient eine Sensibilisierung darauf entwickelt hat. Bei einigen Patienten gibt es diese Reaktion auch auf Mercaptan und Thioether. Diese Stoffe kommen im Körper nur als Zerfallsprodukt in wurzelkranken Zähnen vor. Es sei aber explizit hervorgehoben, dass die Mercaptan-/Thioether-Sensibilisierung sehr selten ist und nicht jeder wurzelkranke Zahn den Patienten mit einer Reaktion schwächt.

Die Sensibilisierungsreaktion auf zahnärztliche Materialien oder auch Mercaptan/Thioether kann man heute über Blutanalysen sicher nachweisen. Zur Diagnostik von Typ-IV-Sensibilisierungen auf Allergene, die über die Scheimhaut aufgenommen werden, ist der Lymphozytentransformationstest dem Epikutantest überlegen. „Der LTT misst die systemische Sensibilisierung, der Epicutantest zeigt überwiegend dermale Effekte an.“1 Sensibilisierungen auf Mercaptane und Thioether werden über Zytokin-basierte Effektorzellanalysen bewiesen. Die Ergebnisse ermöglichen es dem Zahnarzt, die tatsächlich individuell relevanten Reize im Sinne der Expositionsvermeidung aus dem Mund des betroffenen Patienten zu entfernen und durch verträgliche Materialien zu ersetzen. Insofern erspart eine gezielte Diagnostik häufig tiefgreifende, lediglich auf Verdachtsmomenten basierende Sanierungsmaßnahmen.

Fazit

Lokale chronische Entzündungen und Materialunverträglichkeiten leisten einer erhöhten systemischen Entzündungsneigung Vorschub und schwächen die körpereigenen Regulationssysteme. Nach ausführlicher Anamnese ist eine Diagnostik, zumindest von Kofaktoren einer unangemessenen Immunabwehr, möglich. Durch eine entsprechende Expositionsvermeidung kann vielen Patienten noch weiter geholfen werden.

Fußnoten

1 Robert-Koch-Institut 9/2008

Foto: Panthermedia/James Steidl

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