Artikel erschienen am 14.05.2015
E-Paper

Gehirnerschütterung – eine unterschätzte Verletzung?!

Von Dr. med. Axel Gänsslen, Wolfsburg | Dr. med. Wolfgang Klein, Wolfenbüttel

Das Gehirn ist unser elektrisches und chemisches Nervenschaltzentrum. Es überwacht und leitet die Mehrzahl unserer bewussten und unbewussten Aktivitäten. Es besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen, die untereinander bis zu 1 000 Quervernetzungen aufweisen.

Manchmal kommt es durch Krafteinwirkungen direkt auf den Kopf oder indirekt über den Körper zu einer ausgeprägten „Schüttelbewegung“ des Gehirns im Schädel. Dabei können Verbindungen zwischen den Hirnzellen abreißen und das Gehirn nimmt Schaden. Im schlimmsten Fall können dabei kleine Blutgefäße reißen und so zu einer Hirnblutung führen. Bei einer „normalen“ Gehirnerschütterung sind mit den heutigen Bildverfahren wie Computertomographie (CT) oder Kernspintomographie (MRT) fast nie derartige Mikroblutungen nachzuweisen.

Die Konsequenz der Gehirnerschütterung entspricht einem Computerkurzschluss. Durch einen Abriss von einzelnen Verbindungen zwischen den Nervenzellen können diese zwar noch funktionieren, aber möglicherweise nur jede für sich, ohne den zusätzlichen Input der nebenan liegenden Zellen. Der Denkprozess kann sich dann deutlich verlangsamen.
Was ist eine Gehirnerschütterung?

Eine Gehirnerschütterung ist eine Hirnschädigung mit vo­rübergehendem Verlust der geistigen Funktion(en), durch ein direktes oder indirektes (fortgeleitetes) Trauma. Daraus resultiert eine kurzfristige und vorübergehende Leistungsstörung des Gehirns. Die eingehenden Informationen können nicht oder nur sehr verlangsamt verarbeitet werden, sodass es zu Koordinations-, Seh-, Wahrnehmungs-, Bewusstseins-, Hör- oder Verhaltensstörungen kommen kann. Diese werden meist begleitet von Kopfschmerzen, Schwindel oder Übelkeit.

Ein Verlust des Bewusstseins mit Ohnmacht (wie vor wenigen Jahren auch in der Medizin bei der Diagnosestellung noch üblich) liegt nur selten vor.

Wie häufig kommen Gehirnerschütterungen vor?

In Deutschland ist derzeit von etwa 40 000 – 120 000 Gehirnerschütterungen im Jahr auszugehen. Gerade der Sport (v. a. Kontaktsportarten) stellt einen Risikofaktor für das Erleiden von Gehirnerschütterungen dar. Dabei ist in den letzten Jahren eine Zunahme der Schwere der Gehirnerschütterungen, ausgedrückt durch eine verlängerte Erholungsphase, zu verzeichnen. Die Dunkelziffer der Gehirnerschütterungen scheint jedoch deutlich höher zu sein. Befragungen von Sportlern in den USA zeigten, das subjektiv empfundene Risiko, ob eine Gehirnerschütterung vorliegt, deutlich unterschätzt wird.

Wie äußert sich eine Gehirnerschütterung?

Die klassischen Zeichen Bewusstseinsverlust, Erinnerungsstörung und Erbrechen werden nur in 10 – 20 % aller Fälle beobachtet. Die am häufigsten vorkommenden Symptome können in 4 Kategorien eingeteilt werden. Typische Körpersymptome sind in bis zu 70 % der Fälle Kopfschmerzen und Schwindel und in etwa 25 % aller Fälle Übelkeit, Nackenschmerzen, (geistige) Müdigkeit, Ermüdung und/oder verschwommenes Sehen, Blitze oder Doppelbilder. Aber auch die Empfindlichkeit auf Licht und/oder Lärm werden bei jedem zehnten Patienten beobachtet. Störungen der Bewusstseinslage wie Verlangsamung beim Denken, Konzentrations- und Erinnerungsstörungen müssen gezielt erfragt und getestet werden. Emotionale Symptome wie z. B. ungewöhnliche Gereiztheit, Nervosität und ein Gefühl, „nicht mehr ich selbst zu sein“, werden beschrieben. Später können auch Schlafstörungen wie vermehrte Schläfrigkeit, ein veränderter Schlafbedarf und Einschlafstörungen beobachtet werden.

Was ist zu tun?

Generell gilt: Lieber einmal zu oft ins Krankenhaus gehen als eine gravierende Verletzung zu übersehen.

Als Hilfsmittel zum Erkennen möglicherweise schwerwiegender Verletzungen auch für Nichtmediziner liegt eine Taschenkarte vor (www.schuetzdeinenkopf.de).

Ziel jeder Behandlung ist die Erholung der bei der Verletzung geschädigten Nervenzellen, um das Gehirn wieder so leistungsfähig zu machen, wie es vorher war. Hierfür muss sich das Gehirn erholen können und zwar in RUHE. Mit Ruhe ist nicht nur eine Sportpause gemeint, sondern auch eine „Denk“-Pause.

Denn: Keinem Sportler fiele es ein, nach einer starken Muskelzerrung sofort mit Krafttraining oder Muskelarbeit zu beginnen. Genauso sollte unserem Gehirn Ruhe gegönnt werden und die Überflutung mit äußeren Reizen (Lärm, Licht) und intellektueller Arbeit (Lernen, Konzentrieren, Lesen, Überlegen) auf ein Minimum reduziert werden.

Zwingend soll eine medizinische Sofort­abklärung erfolgen bei:

  • jeglichem, auch nur kurzzeitigem, Bewusstseinsverlust,
  • Bestehenbleiben oder Verstärkung von Symptomen,
  • verzögert eintretenden Symptomen,
  • Halswirbelsäulenschmerzen.

Aufgrund der möglichen Blutungsgefahr erfolgt nach einer gründlichen ärztlichen Untersuchung typischerweise eine 24-stündige Überwachung, bei welcher darauf geachtet wird, ob im Verlauf Symptome einer solchen Hirnverletzung auftreten.

Durch eine CT kann diese dann bereits nach wenigen Stunden nachgewiesen oder ausgeschlossen werden.

Es gibt keine spezifische Therapie bei einer Gehirnerschütterung. Die absolut förderlichste Maßnahme in den ersten 1 bis 3 Tagen ist die absolute Ruhe.

Der Patient soll sich bewusst in einem leicht abgedunkelten Zimmer (Lichtreiz) in Ruhe ausruhen und schlafen. Äußere Reize wie Musik, Fernsehen, Lernen und generell intellektuelle Anstrengungen für das Gehirn sollen auf ein Minimum reduziert werden. Nur so wird den gereizten Hirnleitungen eine Erholung überhaupt ermöglicht.

Noch symptomatische Patienten können bereits nach kurzer Zeit in der Schule oder im Beruf vollkommen überfordert sein und evtl. vermehrt Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen und Müdigkeit verspüren, was für den Heilungsverlauf kontraproduktiv wäre. Der Patient soll sich bei der Gehirnerschütterung „gesund schlafen“.

Die Wiederherstellung der Nervenzellverletzung bedarf einer Mindestzeit von 6 bis 10 Tagen.

Die Gehirnerschütterung hat bei einer korrekten Behandlung (frühzeitiges Erkennen und Behandlung) eine sehr gute Prognose und heilt in den allermeisten Fällen folgenlos ab. In 85 % aller Fälle liegen nach 1 Woche, in 97 % nach 3 – 4 Wochen keine Störungen mehr vor.

Es wäre fatal, wenn während der Repara­tionszeit eine weitere Verletzung eintreten würde. Gerade weil sich die Gehirnerschütterung in ihrer Schwere schlecht fassen lässt (an einem Gelenk sieht man die Schwellung und spürt den Schmerz) und häufig weder CT noch MRT Folgen der Verletzung zeigen können, braucht es viel Aufklärung und Überzeugungskraft, die Patienten nicht zu früh körperlich und geistig zu belasten.

Das sog. Return-to-play-Konzept trägt dem Umstand der Hirnfunktionsstörung am meisten Rechnung. Es soll konsequent angewendet werden, um Spätfolgen so unwahrscheinlich wie möglich zu machen. Endgültig vorbei sind die Zeiten, als es zum guten Ton gehörte, sich nach einem K. o. wieder aufzurappeln und weiter zu spielen.

Im Sport und in Schule/Beruf hat sich ein Konzept des stufengebundenen Wiedereingliederns bewährt. Dieses Konzept wurde zusammen mit der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung für Deutschland modifiziert.

In seltenen Fällen ist auch nach 4 Wochen immer noch eine Symptomatik vorhanden. Dann kommt der genaueren neurologischen und neuropsychologischen Testung relevante Bedeutung zu. Gerade die Erholung von kognitiven Einschränkungen (Bewusstseinsstörungen wie Merkfähigkeit, Konzentration usw.) kann dann detaillierter bestimmt werden. Diese Untersuchungen sind jedoch noch nicht überall verfügbar. Entsprechend empfehlen wird die Kontaktaufnahme über Mitglieder der Kampagne „Schütz-Deinen-Kopf“ der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung.

Prognose und Verlauf – Risikofaktor Gehirnerschütterung

Patienten mit bereits erlittener(n) Gehirner­schütterung(en) weisen ein erhöhtes Risiko auf, eine weitere Gehirnerschütterung zu erleiden! Es gibt keine klaren Aussagen betreffend der Spätfolgen, jedoch scheint die wiederholte Gehirnerschütterung zumindest ebenso schlecht zu sein, wie die Stärke der einzelnen. Die Summation mehrerer Gehirnerschütterungen erhöht möglicherweise die Wahrscheinlichkeit, im Alter häufiger an Demenz, Alzheimer oder Depression zu erkranken. Einschränkend muss aber festgestellt werden, dass im Einzelfall in keiner Weise vorhersehbar ist, bei welchem Sportler oder Spieler derartige Folgen auftreten können.

Zusammenfassung

Die Gehirnerschütterung ist eine sehr ernst zu nehmende Verletzung, welche erhebliche Spätschäden verursachen kann.

Die Sensibilisierung und Aufklärung zum Krankheitsbild Gehirnerschütterung, deren frühzeitige Erkennung und korrekte Behandlung sollen helfen, die möglichen Folgen zu minimieren und dem Patienten eine professionelle Rehabilitation ermöglichen. Das Wichtigste bei der Gehirnerschütterung ist es, diese überhaupt zu vermuten und zu erkennen!

Es gibt keine spezifische Behandlungsmöglichkeit der Gehirnerschütterung in Form von Medikamenten oder physikalischen Methoden. Zeit, Ruhe und vor allem Krankheitsverständnis sind die wichtigsten Faktoren und neben der medizinischen Untersuchung gehört der neuropsychologische Test zu den objektiven Parametern, welche das Return-to-play-Konzept sicherer machen.

Jede nicht erkannte Gehirnerschütterung birgt ein nicht unerhebliches Potenzial für Folgen im späteren Leben!

Ähnliche Artikel

Gesundheit

Schlaganfallzentren und ihre Rolle in der Behandlung akuter Schlaganfälle

Rund 260 000 Menschen erleiden jährlich in Deutschland einen Schlaganfall. Ein Schlaganfall entspricht einer Durchblutungsstörung des Gehirns. Diese hat meist verschiedene Ursachen. Im Rahmen der akut einsetzenden Erkrankung gehen Nervenzellen des Gehirns an einem Mangel an Sauerstoff und Nährstoffen zugrunde.

Braunschweig 2018/2019 | Mazen Abu-Mugheisib, Braunschweig