Artikel erschienen am 14.10.2016
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Mehr Sicherheit bei Pillen, Tropfen & Co.

Pilotprojekt verbessert Arzneimittelsicherheit erheblich

Von Adelheid May, Goslar

Patienten wollen und müssen sich im Krankenhaus darauf verlassen, dass sie in guten Händen sind. Nur wer sicher sein kann, dass die Hygienestandards stimmen, Ärzte und Pfleger topfit sind und dass in der Medikamentenschale immer die richtigen Tabletten liegen, hat Vertrauen in seine Klinik.

Vor allem das Heraus­suchen und Bereit­stellen von Medi­kamenten ist eine wichtige Aufgabe im Kranken­haus­alltag, die Auf­merk­samkeit und Konzentration erfordert. So weit die Theorie. Doch die Praxis sieht häufig anders aus. Aus Unter­such­ungen von Professor Wilfried von Eiff vom Centrum für Kranken­haus­manage­ment an der West­fälischen Wilhelms-Universi­tät Münster ist bekannt, dass in Kranken­häusern mehr als ein Drittel aller Fehlereignisse, also Schädigungen des Patienten, auf Medikamenten­irrtümer zurück­zuführen sind. In bis zur Hälfte der Fälle sind ärztliche Verschreibungen die Fehler­quelle. Bis zu 14 % der Probleme entstehen bei der Medikamenten­ausgabe und bis zu 38 % der Fehler treten beim Verabreichen der Medikamente auf.

Mit gravierenden Folgen: Doppelverschreibungen, falsche Dosierungen oder übersehene Wechselwirkungen können kranke Patienten schädigen oder zumindest ihre Genesung verzögern. Medikationsfehler führen dazu, dass Patienten länger im Krankenhaus bleiben müssen, sie erhöhen die Kosten der Behandlung und schädigen nicht zuletzt den Ruf des Krankenhauses.

Um solche Fehler zu verhindern, müssen die Mitarbeiter, die für das Stellen und Verabreichen der Medikamente verantwortlich sind, in Ruhe und mit Konzentration arbeiten können – möglichst in einem Arbeitsgang ohne Unterbrechungen.

In vielen Kliniken ist dies bisher nur mit Abstrichen gelebte Realität. Häufig werden die Medikamente im Nachtdienst gestellt. Das hat zwar den Vorteil, dass in der Nacht Störungen seltener sind als am Tag. Gleichzeitig aber zeigen Untersuchungen von Arbeitsmedizinern, dass im Nachtdienst Konzentration und Aufmerksamkeit geringer ausgeprägt sind als im Tagdienst. Zudem können die Mitarbeiter in der Nacht nicht unmittelbar reagieren, wenn ihnen nötige Angaben zur Medikation oder Informationen fehlen. Das führt dazu, dass der Arbeitsschritt nicht abgeschlossen werden kann und Patienten mitunter ihre Medikamente verspätet erhalten.

Aus diesem Grund wurde in den Asklepios Harzkliniken nach Strategien gesucht, das Stellen der Medikamente aus dem Nacht- in den Tagdienst zu verlagern und diese Aufgabe auch bei größtem Arbeitsanfall fachgerecht durchzuführen. So sollten Medikationsfehler reduziert werden. Gleichzeitig erhoffte man sich von einer Neuorganisation des Medikamentestellens und vor allem durch die Einbindung der Apotheke in das Team, dass Wechselwirkungen verschiedener Medikamente möglichst verhindert oder aber schneller erkannt werden.

Im Fachbereich Unfallchirurgie hat der Klinikverbund deshalb ein Pilotprojekt gestartet, für das nun erste Evaluationsergebnisse vorliegen. Am Projekt waren die Leiterin der Apotheke und ein Stationsapotheker, ein Chefarzt, die Pflegedirektorin, die Stationsleitung, eine pharmazeutisch technische Assistentin (PTA) sowie ein Vertreter des Betriebsrats beteiligt.

Das Projekt startete am 27.04.2015 und wurde in verschiedenen Schritten bzw. Meilensteinen geplant. Zunächst galt es, eine Tagesstruktur für den Einsatz der PTA und des klinisch tätigen Apothekers zu erarbeiten. Im Folgenden wurden die Visiten- und Anordnungszeiten des ärztlichen Dienstes angeglichen. Im dritten Schritt wurde ein Dokumentationssystem für das Anordnen, Richten und Verabreichen der Medikamente erstellt. Nach einer dreimonatigen Testphase auf der Station und anschließender Auswertung wurden der Krankenhausleitung die Ergebnisse vorgestellt.

Besonderes Augenmerk wurde auf die Dokumentation der Medikamentenverordnung durch den behandelnden Arzt gelegt. An ihn richten sich deutliche Anforderungen: Seine Verordnungen müssen lesbar sein, die Dosierung und die Verabreichungsform müssen eindeutig vermerkt werden. Das ist eigentlich bekannt – in der Praxis gerät es aber häufig in Vergessenheit. Deshalb wurde im Pilotprojekt großer Wert darauf gelegt, dass jede Anordnung mit dem Handzeichen des verordnenden Arztes versehen werden muss. Wurden Medikamente abgesetzt oder verändert, musste auch dies im Dokumentationssystem eindeutig gekennzeichnet werden.

Bei allen Neuaufnahmen wurde ein pharmazeutisches Konsil durch einen Apotheker durchgeführt. Das heißt: Für jeden neuen Patienten gab es eine Beratung durch den Apotheker. Seine Informationen an den Arzt wurden im Verordnungsblatt der Kurve in grüner Schrift eingetragen und mit einem Stempel „Empfehlung Apotheke“ versehen. Erst wenn der behandelnde Arzt das abgezeichnet hatte, wurden die empfohlenen Medikamente in der Kurve vermerkt und ggf. der Plan, welche Arzneimittel der Patient in welcher Form erhalten soll, geändert. Alle Umstellungen wurden einem täglichen Check durch einen Apotheker unterzogen.

Während der Erprobung wurden folgende Tätigkeiten der PTA zugeordnet: Stellen der Medikation, Umstellen der Medikation auf Hauslistenpräparate, Dokumentation direkt in der Kurve, ggf. Empfehlungen alternativer Arzneiformen oder Anwendungen, Plausibilitätskontrolle von der in der Kurve angegebenen Medikation in Hinblick auf Verfügbarkeit und Dosierung der Präparate, ggf. Abgleich mit den Medikationsplänen des Patienten, Rücksprache mit Patient, Hausarzt oder Pflegeeinrichtung.

Das Richten der Medikamente wurde organisatorisch aus dem Stationsalltag an die PTA verlagert, sodass ein störungsfreies Arbeiten ermöglicht wurde. Besonderer Wert wurde von Anfang an auf das konsequente Einhalten des Vier-Augen-Prinzips gelegt. Das Richten und Verabreichen der Medikamente sollte in jedem Fall durch unterschiedliche Mitarbeiter erfolgen.
Während der gesamten Projektphase wurden alle Interventionen, wie z. B. Umstellungen und Nachfragen, dokumentiert und evaluiert.

Die bisherigen Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: Bei mehr als 17 % aller Patienten und 2,5 % aller Verordnungen war das Eingreifen von PTA oder Apotheker nötig. Diese Interventionen hatten jeweils zur Hälfte pharmakologisch-medizinische bzw. ökonomische Gründe. Die Auswertung der Interventionen zeigte, dass insbesondere die Dosierung von Medikamenten hinterfragt werden musste oder dass Patienten Medikamente eingenommen hatten, die eigentlich abgesetzt werden sollten.

Durch das Pilotprojekt konnten zweifelsfrei Medikationsfehler vermieden werden. Damit wurde ein wichtiger Beitrag zur Erhöhung der Patientensicherheit erbracht.

Auch in der Belegschaft ist die Umstellung auf große Zustimmung gestoßen: Insbesondere die Pflegefachkräfte fühlen sich durch die Verlagerung eines Großteils der Aufgaben im Zusammenhang mit dem Stellen der Medikamente in ihrem Alltag deutlich entlastet – auch wenn nicht alle Aufgaben zu 100 % übergeben werden können. Bei den Pflegekräften verbleiben folgende Aufgaben: das Stellen von Tropfen, Präparate mit Haltbarkeitseinschränkungen nach der Entnahme aus der Originalverpackung nehmen, Zubereiten parenteraler Applikationsformen (also Injektionen oder Infusionen), Stellen der Medikamente bei Aufnahmen in der Nacht oder im Spätdienst und im Zusammenhang mit dem Vier-Augen-Prinzip das Zählen der Tabletten im Abgleich mit der Patientendokumentation bei Verabreichung und das Abzeichnen in der Kurve. Apotheke, Ärzte und Pflegepersonal lobten die vertrauensvolle Zusammenarbeit zum Wohle der Patienten.

Bislang nicht evaluiert wurden ökonomische Effekte etwa durch das Absetzen nicht erstattungsfähiger Präparate, Lagerwertreduktion der Station und Synergieeffekte. Es ist allerdings davon auszugehen, dass der ökonomische Nutzen hier ebenfalls relevant ist.

Die Neuorganisation des Medikamentestellens soll daher künftig in allen Bereichen und Häusern vorgenommen werden. Noch im Dezember 2015 wurde sie auf zwei weiteren Stationen eingeführt. Für den Sommer 2016 ist die Ausweitung auf noch einmal vier zusätzliche Stationen geplant. In diesem Zusammenhang werden drei neue PTA und ein Apotheker eingestellt.

Info

Bei mehr als 17 % aller Patienten und 2,5 %aller Verordnungen war das Eingreifen von PTA oder Apotheker nötig. Die Auswertung zeigt deutlich, dass durch das Pilotprojekt Medikationsfehler vermieden werden konnten.

Bild: Fotolia/Andrzej Tokarski

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