Artikel erschienen am 03.10.2018
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Verlust der Verantwortung

Von Klaus-Dieter Lübke-Naberhaus, Braunschweig

Ich würde Sie gerne einladen, mit mir auf die Reise zu gehen, um der Theorie zu folgen, dass die Verantwortung in Teilen unseres Lebens verloren gegangen ist und wie wir als Gesellschaft und als einzelne Menschen zurück in die Verantwortung kommen können.

Was heisst Verantwortung?

Am Anfang war das Wort und die Herkunft des Wortes Verantwortung liegt in der Antwort, also in der Erwiderung, der sog. Gegenrede, dem Widerwort.

Seine Bedeutung kann man mit einer Verpflichtung, die sich aus einer bestimmten Aufgabe, einer bestimmten Stellung ergibt, wiedergeben. Der Verantwortliche trägt dafür Sorge, dass innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht, somit ein guter Ablauf gewährleistet ist.

Eine weitere Bedeutung von Verantwortung ist die Verpflichtung, für etwas Geschehenes einzustehen, die Verantwortung zu übernehmen.

Der Mythos Markt

Einem Theologen wurde von seinen Freunden empfohlen, doch einmal etwas Anderes zu lesen, als ewig diesen langweiligen theologischen Kram. Sie empfahlen ihm, wenn er das wirkliche Leben kennen lernen möchte, den Wirtschaftsteil der Times und er las einen Artikel über die Wirtschaft und den Markt. Als er wieder auf seine Freunde traf, berichtete er Ihnen, was er in der Times gelesen habe und dabei viele Parallelen zur Theologie feststellen konnte.

Das, was früher Gott war, ist heute der Markt!
Denn der Markt weiß alles, so wie Gott alles weiß!

Der Markt regelt alles, so wie Gott alles regelt!

Der Markt lässt aus nichts Wertvolles entstehen, so wie Gott Wein aus Wasser gemacht hat!

Der Markt hat seine Experten, die wissen, wie es geht, damals hießen sie im Zusammenhang mit Gott Propheten!

Geopfert werden dem Markt Beruf und Gerechtigkeit, damals Schafe und Ziegen!

Wenn mal etwas schiefgeht, was brauchen wir dann in beiden Systemen? Noch mehr Vertrauen!

Und wenn wir den Markt und Gott nicht verstehen, dann ist es der unwiderlegliche Beweis, dass es stimmen muss!

Deswegen fasst also dieser Harvard-Theologe zusammen, dass die Wirtschaft heute nichts Anderes ist als das, was früher die Theologie gewesen ist und der Markt genau die gleiche Systemstelle wie Gott hat.

Somit ist die heutige Religion, der ein großer Teil von uns Menschen anhängen, die kapitalistische Marktgesellschaft. Wir glauben ihren Regeln, ihren Gesetzen und ihren Experten, und wir glauben, dass der Markt alles regelt. Nun ja, seit einiger Zeit wissen wir aber, dass auch der Markt nicht alles richten kann, spätestens nach den Blasen rund um Immobilien und Kapitalgeschäften, dass auch der Markt nicht alles weiß und dass er sogar furchtbar danebenliegen kann. Was bleibt uns dann übrig? Wenn es der Markt nicht weiß und nicht richtet, dann müssen wir eben doch selbst denken, selbst die Verantwortung übernehmen.

Wollen wir wirklich so tun, als würde sich alles von alleine richten? Selber zu denken im Sinne der Idee der Aufklärung wäre eine Antwort darauf.

Verantwortungslosigkeit auf vielen Ebenen

Im Folgenden wollen wir uns die Bereiche anschauen, in denen aus meiner Sicht Verantwortung verloren gegangen ist, nicht mehr angenommen wird. Am Beispiel der Krankenhausplanung lässt sich der Verlust der Verantwortung innerhalb der Politik recht gut darstellen.

Viele Fachleute des Marktes Gesundheit betonen immer wieder und nachhaltig, dass wir in Deutschland zu viele Krankenhäuser und Krankenhausbetten haben.

Aus dem Grunde einer zunehmend schwieriger werdenden Finanzierung der Kosten im Gesundheitswesen, manche sprachen von Kostenexplosionen insbesondere im stationären Sektor, wurde Anfang 2000 ein neues Abrechnungssystem eingeführt. Unter anderem wurde offen formuliert und insgeheim gehofft, über diese wirtschaftliche Weichenstellung den Krankenhausmarkt zu bereinigen. Es fand eine Reduzierung der Krankenhäuser und der Zahl an Krankenhausbetten statt, die der Logik der Krankenhausfinanzierung folgten. Eine sinnvolle Steuerung gab es aus meiner Sicht in diesem Prozess nicht.

Die Ergebnisse sind jedoch nach Expertenmeinung völlig unzureichend. Somit wurde vor einigen Jahren das nächste Instrument eingeführt, die Verbindung von Qualität mit Bezahlung. Werden festgelegte Qualitätskriterien nicht erzielt, so werden diese mit Abschlägen in der Vergütung bestraft. Über dieses Instrument sollen gleichzeitig Qualitätssteigerungen und Marktanpassungen erzielt werden.

Weiterhin werden die für die Erhaltung der Struktur der Krankenhäuser notwendigen Investitionen durch die Bundesländer nicht zu Verfügung gestellt, gleichzeitig in überversorgten Regionen keine Strukturveränderungen vorgenommen.

Der letzte Punkt ist nach oben genannter Definition von Verantwortung, ein Verlust der Verantwortung in der Politik. Die Verantwortlichen tragen nicht die Sorge, dass innerhalb eines bestimmten Rahmens das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht, somit ein guter Ablauf gewährleistet ist. Hier entsteht Schaden, Gelder werden im vollem Bewusstsein nicht eingesetzt. Und somit werden auch gute Abläufe nicht gewährleistet.

Das Gleiche gilt auch für die Krankenhaus­planung. Eine die Einzelinteressen überwindende, länderübergreifende Krankenhausplanung, mit dem Ziel, eine aus der Patientensicht optimale Versorgung sicherzustellen, die gleichzeitig die vorhandenen Potenziale im Blick hat, wäre wünschenswert.

Die handelnden Politiker würden innerhalb der vorhandenen Rahmenbedingungen gestalten können, wie die Gesundheitsversorgung im stationären Bereich unter Berücksichtigung der weiteren Bereiche der Gesundheitsversorgung (sektorenübergreifende Versorgung) in der Zukunft aussieht.Das setzt eine Übernahme der Verantwortung und die Gestaltung der Umsetzung voraus – und nicht die Abgabe der Verantwortung an den Markt und die Lobbyisten.

Das Damoklesschwert der Digitalisierung

Die Digitalisierung ist einer der wichtigsten Megatrends. Die Megatrends zeigen auf, welche Innovationen in Zukunft möglich werden und welche neuen Bedürfnisse zu erwarten sind.

Gleichzeitig wird dieser Megatrend als die 5. Kondratieff-Welle eingestuft. Somit steht die Digitalisierung in ihrer Bedeutung auf der gleichen Innovationsstufe wie die Dampfmaschine oder die Eisenbahn.

Neue Geschäftsmodelle, technische Unterstützung, Globalisierung durch digitale Teilhabe, Vernetzung und neue Kommunikations- und Beteiligungsformen sowie zunehmende Informationsverarbeitung in Echtzeit sind nur ein paar Beispiele der Auswirkungen.

Im Gesundheitsbereich werden uns zunehmend die Technisierung und Individualisierung der Medizin sowie die stärkere Informiertheit von Patienten und Selbstbehandlung herausfordern.

Globalisierung und Digitalisierung bringen unsere Umwelt und unser Denken gehörig durcheinander, externe Rahmenbedingungen, die einen Zusammenhalt geboten haben, werden optimalerweise durch innere Haltungen ausgeglichen.

Digitalisierung beginnt im Kindergarten, renommierte Fachleute aus Politik, Bildung und Wirtschaft fordern die Einführung digitaler Medien und Vermittlung von Medienkompetenz schon zu diesem frühen Zeitpunkt. Wer hat denn Medienkompetenz bisher definiert? Verstehen wir darunter, dass jeder eine Spielekonsole, ein Smartphone oder ein Tablet besitzt und es bedienen kann?

Professor Spitzer formuliert diese Entwicklung rund um Medien und Digitalisierung als digitale Demenz. Folgende mögliche Auswirkungen sind aus seinen Ausführungen herauszulesen. Der übermäßige Gebrauch von Medien, oder gegebenenfalls die Abhängigkeit von ihnen, führt zur einer Mindernutzung unseres neuronalen Netzwerkes, unseres Gehirns, und damit zu einer Minderung der Möglichkeiten und einer weiteren Abgabe von Verantwortung.

Es geht um den kritischen Umgang mit den modernen Medien und die grundlegende Bildung der heranwachsenden Generation im Sinne von autonomen, selbst- und querdenkenden Persönlichkeiten.

Wir haben die Verantwortung, den Einsatz dieser Techniken zu steuern. Nicht die Technik sollte den Menschen und sein Denken steuern.

Ökonomie und Ethik

Dass Ethik und Ökonomie zwei Seiten einer Medaille sind, es unethisch ist, nicht wirtschaftlich zu sein, dieser Standpunkt kann vertreten werden. Die Ökonomie hat sich aus meiner Sicht mittlerweile jedoch über die Medizin und ihre innewohnenden Ethik erhoben, bestimmt sie. Diese Ursache liegt wiederum in dem Verlust der Verantwortung, die zunächst der Arzt dem Betriebswirt und danach der Betriebswirt dem Markt übergeben hat. Und wir wissen heute, der Markt regelt es nicht – oder ganz in seinem Sinne.

Wollen wir eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen, eine Gesundheitsversorgung, die dem Namen gerecht wird, und die nicht eine Reparatur- und Auftragsmedizinmaschinerie ist, die sich nach Effizienz und Ökonomie ausrichtet? Dann wäre es wünschenswert, wenn die Handelnden im Gesundheitswesen sich auch an dieser Stelle ihre Verantwortung zurückholen und die Rahmenbedingungen und Ausrichtungen gemeinsam am Menschen orientiert gestalten.
Innerhalb der Therapieentscheidungen obliegt die Verantwortung dem behandelnden Arzt, der innerhalb von deutlich weiter gesteckten Rahmenbedingungen, freie medizinische Entscheidungen im Sinne der optimalen Patientenversorgung treffen kann.

Aktuell wurden Rahmenbedingungen in erdrückender Weise in allen Bereichen (Verwaltung, Ökonomie, Rechtsprechung und Gesetzgebung) gesetzt, die weit von der „ärztlichen Heilkunst“ und dem Patientennutzen entfernt sind – oftmals unter dem Deckmantel der Qualitätssicherung und der Effizienz.

Die Verantwortung gehört zurück in die Hände der Mediziner. Rahmenbedingungen hierfür sind gemeinsam mit der Politik, den Kostenträgern und den Ökonomen zu gestalten.

Somit sind auch hier ein Umdenken und die Übernahme der Verantwortung des einzelnen Akteurs angezeigt. Den Verlust der Verantwortung als gesellschaftliches Problem möchte ich im nächsten Kapitel näher erläutern.

Verlust der Verantwortung als gesamtgesellschaftliches Problem

Gerade im Gesundheitswesen lässt sich dieses Phänomen gut an dem ein oder anderen Beispiel veranschaulichen.

Aktuell wird insbesondere über den Andrang in den Notaufnahmen der Krankenhäuser geklagt. Schauen wir uns Beispiele aus diesen Notaufnahmen an, so können wir sehr schnell feststellen, wie sich der Verlust der Verantwortung beim Einzelnen innerhalb dieser Gesellschaft äußert.

Es gelangen Menschen mit Verletzungen in die Notaufnahme, bei denen wir von Bagatellverletzungen sprechen. Für Sie persönlich stellt es sich als Notfall dar. Die Verantwortung für sich und Ihnen anvertrauten Menschen übernehmen, heißt jedoch auch, medizinische Kompetenz zu erwerben, und da, wo möglich, selbst tätig zu werden.
Die Verantwortung für sich selber, sein eigenes Handeln und seine Erkrankung wird oft nicht übernommen oder an den Arzt delegiert. Eine Augenhöhe zwischen Patienten und Arzt verlangt neben der Verständlichkeit und Transparenz der Maßnahmen durch den Arzt, die Übernahme der Verantwortung durch den Patienten für eine gemeinsame Entscheidung des weiteren Vorgehens.

Insgesamt befinden wir uns bei dem Verlust der Verantwortung in einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen, dass auf den verschiedensten Ebenen sichtbar ist.

Was führt uns zurück zur Autonomie und zur Verantwortung

Nun ist es an uns, uns von den Pflöcken, die andere und wir uns selber gesetzt haben, zu befreien und zurück in die Verantwortung zu kommen.

Die Faktoren des Glücklichseins sind Transparenz, Gestaltbarkeit und Sinnhaftigkeit und der wichtigste und langanhaltendste Motivationsfaktor des Menschen ist Verantwortung. Das, was wir nun tun wollen, würde wünschenswerterweise offen und nachvollziehbar durch uns gestaltbar sein und uns in einem tieferen Sinn erfüllen. Damit ist Verantwortung wieder bei uns, beim einzelnen Menschen und damit ist es uns auch möglich, Verantwortung für andere zu übernehmen.

Hierzu ist die Ausbildung einer Haltung notwendig, keine Verhaltensänderung. Diese Haltungsbildung wird aus meiner Sicht fast ausschließlich über eine neue Epoche der Aufklärung gehen, und ein zentraler Schlüssel wird die Bildung darstellen, wie auch die Schaffenskraft, die in regionalen Lösungen zu finden ist, um angepasste Lösungen vor Ort gestalten zu können.

Denn mit dieser Verantwortungsübernahme gelingt uns die Gestaltung der Zukunft, frei nach Saint-Exupéry, die wir nicht voraussehen, sondern möglich machen sollen. Am Ende steht die Tat.

Foto: Fotolia/Leszek Glasner

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