Artikel erschienen am 14.12.2023
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Systemsprenger Oder: Wer sprengt hier was und wen?

Von Dr. med. Gabriele Grabowski, Königslutter

Eine klare Definition als Fachbegriff gibt es nicht und die Bezeichnung ist auch umstritten. Er spiegelt die Hilflosigkeit, vor allem der Jugendhilfe, der Schule, der Psychiatrie, der Behindertenhilfe sowie der Justiz in herausfordernden Konstellationen wider. Gemeint sind hier Betroffene, die aufgrund besonderer Verhaltensauffälligkeiten nur schwer in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe respektive Behindertenhilfe integriert werden können. Infolgedessen werden sie entweder von Einrichtung zu Einrichtung durchgereicht oder sie ziehen sich ganz zurück, fallen aus dem sozialen Netz, werden obdachlos oder straffällig. Also stellt sich die Frage, wer sprengt hier was und wen? Sind vielleicht die Betroffenen vom System gesprengt?

Foto: Adobe Stock / MNStudio

Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf war beratend an der Filmentstehung „Systemsprenger“ beteiligt. Er definierte den Begriff 2019 wie folgt: „Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten, negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, dem Bildungssystem und der Gesellschaft befindet, und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestaltet“.

Die 9-jährige Bernadette, genannt „Benni“, ist auf den ersten Blick ein fröhliches und freundliches Mädchen. Doch jede Enttäuschung und jeder Konflikt kann einen unkontrollierten Wutausbruch auslösen, bei dem sie schwere Schäden anrichtet oder andere und auch sich selbst verletzt. Benni droht durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe zu fallen, da sie sich in einem Teufelskreis befindet. Sie sehnt sich nach einer richtigen Familie, ist jedoch nicht dazu in der Lage, die Bedürfnisse anderer Menschen angemessen zu respektieren. Das mündet in den nächsten Wutausbruch, sodass jede Unterbringung scheitert und jede Enttäuschung macht den nächsten Versuch schwieriger. Eine Beschulung wurde für eine Förderschule mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung festgestellt. Diese Form der Förderschulen hält ein intensivpädagogisches Konzept mit kleinen Klassengrößen vor. Auch von dieser Schule wurde Benni dauerhaft suspendiert. Stationäre Behandlungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und medikamentöse Einstellungen ändern grundsätzlich nichts an der Gesamtsituation.

Am liebsten würde Benni bei ihrer Mutter leben, doch diese ist damit vollkommen überfordert und hat Angst vor ihr. In der Folge macht die Mutter Versprechungen, die sie nicht einhalten kann, um Benni zu besänftigen. Für Benni bedeutet dies, immer wieder neue Enttäuschungen hinnehmen zu müssen. Der Lebensgefährte der Mutter begegnet den Entgleisungen mit Härte, was zu grenzenloser Eskalation führt.

Als letzte Optionen werden die pädagogisch geschlossene Unterbringung oder ein längerer Auslandaufenthalt diskutiert. Die Regisseurin Nora Fingscheidt führte aus, dass dieser Film entstanden ist, um Verständnis für Kinder wie Benni zu wecken. Der Strudel aus Wohnorten, der dauerhafte Wechsel von Bezugspersonen. Wie soll ein Kind, dessen einzige Kontinuität der Wechsel ist, irgendwo Halt finden? Kinder und Jugendliche mit ähnlicher Lebensgeschichte werden durch das gesamte Bundesgebiet gereicht und nach mehr oder weniger kurzen Aufenthaltsdauern wird der Platz in der Jugendhilfeeinrichtung doch wieder gekündigt. Den Professionellen vor Ort sind die Betroffenen durch immer wiederkehrende Krisensituationen bekannt. Involviert sind neben der Jugendhilfeeinrichtung die Eltern bzw. der Vormund, das abgebende und empfangende Jugendamt, Therapeuten, die Polizei, Rettungskräfte, die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und noch mehr. Professor Baumann identifizierte 2010 in seiner Studie „Kinder, die Systeme sprengen“ 421 Fälle, die in Niedersachsen aufgrund von herausfordernden Verhaltensweisen aus Einrichtungen entlassen werden mussten. Macsenaere (2018) ermittelte 17% des gesamten Jugendhilfeklientels, die sehr häufig die Einrichtungen wechseln. Diese Zahlen zeigen, dass wir hier über eine nennenswerte Größe an betroffenen Minderjährigen sprechen.

Folgende Verhaltensweisen sind pädagogisch kritisch zu betrachten und werden u.a. ursächlich für die Beendigung von Jugendhilfemaßnahmen angegeben:

  • gewaltförmige Verhaltensweisen auch gegen körperlich deutlich unterlegene Kinder oder auch gegen Erwachsene bzw. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
  • Drogenkonsum auch in den Einrichtungen inklusive Weitergabe und Handel mit Substanzen und Einbezug anderer Jugendlicher
  • häufige Entweichungen verbunden mit riskanten Verhaltensweisen während der Abwesenheit
  • extreme Formen der Selbstbeschädigung
  • Brandstiftung oder Zündeln.

Leider verliert sich in der Versorgung der „schwierigen Fälle“ nicht selten die Frage nach der fallspezifischen Intervention: „Was braucht dieses Kind / diese Familie an Impulsen, damit Veränderung entstehen kann?“ An diese Stelle treten dann Fragen, wie: „Was geht denn überhaupt noch? Was haben wir noch nicht ausprobiert? Wer nimmt denn diesen Fall überhaupt noch?“ Erschwerend stellt sich die Landschaft der stationären Jugendhilfemaßnahmen dar. Überlastete Einrichtungen, volle Aufnahmekapazitäten und zu wenig Personal lassen selten individuelle Versorgungslösungen zu.

Wünschenswert sind für den Umgang mit Minderjährigen und deren herausforderndem Verhalten Angebote, die

  • konfliktsicher, deeskalierend und präsent  sind
  • reflektiert bezüglich Nähe-Distanz, Bindung  – Abgrenzung sind
  • dranbleibend, haltend ausgerichtet und  nicht so schnell abzuschütteln sind
  • Kontinuität vermittelnd sind
  • in ihrer Haltung verstehend sind und trau masensible Ansätze berücksichtigen
  • mit Konzepten des Schutzes und der Sicherung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter  ausgestattet sind
  • sehr wichtig ist auch die Flexibilität in der  Umgestaltung des Settings, wenn nötig.

Es werden teilweise sehr differenzierte Hilfeformen, sog. „passgenaue Hilfen“, vorgehalten, die zwischen niederschwelligen Betreuungsangeboten bis zu Zwangsmaßnahmen reichen. In der Jugendhilfe stehen prinzipiell folgende Betreuungsformen bereit:

  • individualpädagogische Maßnahmen im  In- und Ausland
  • Intensivgruppen (mit hohem Betreuungs  schlüssel und geringer Platzzahl)
  • geschlossene Unterbringung (Nieder  sachsen: 7 Plätze für Jungen im Alter von 10 - 14 Jahren)
  • Betreuung im trägereigenen Wohnraum
  • therapeutische Wohngruppen
  • Streetwork und Notschlafstellen
  • hochindividualisierte Sonderleistungen im  Fallverbund.

Die einzelnen Betreuungsformen unterscheiden sich durch ihre Struktur und inhaltlich voneinander. Entscheidend für die Passung der Hilfe ist, ob es inhaltlich und auf der Bindungsebene gelingt, mit den Betroffenen in Kontakt zu geraten. Evaluationsstudien haben gezeigt, dass diese Hilfeformen durchaus in der Lage sind, deutlich positive Effekte zu erzielen. Aber in allen diesen Hilfen gibt es auch Abbrüche und weitere Erfahrungen des Scheiterns, was dann die Dynamik des Scheiterns zusätzlich verstärkt.

Für die Zukunft muss weiter daran gearbeitet werden, sich der Dynamik scheiternder Hilfeverläufe individuell anzunähern. Andererseits müssen pädagogische Fachkräfte so begleitet, unterstützt und supervidiert werden, dass sie die belastende Arbeit weiterhin professionell und zugewandt leisten können. Auch Kinder und Jugendliche mit herausforderndem Verhalten haben es verdient sicher aufwachsen zu dürfen.

Zitat von Khalil Gibran (1883-1931):
Da werden Hände sein, die dich tragen und Arme, in denen du sicher bist und Menschen, die dir ohne Fragen zeigen, dass du willkommen bist.

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