Artikel erschienen am 01.12.2013
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Kompetenz, Innovation und Empathie

Von Prof. Dr. med. Ulrich Bosch, Hannover

 International Neuroscience Institute Hannover

Service-Seiten: Was sind die größten Heraus­forderungen an die orthopädische Chirurgie des
21. Jahrhunderts?
Prof. Dr. Bosch: Muskuloskeletale Erkrankungen und Verletzungen, d. h. Erkrankungen und Verletzungen des Bewegungsapparats, sind weltweit eine der häufigsten Ursachen für Schmerzen und Funktionseinbußen an Sehnen, Bändern, Muskeln und Gelenken. Es sind sowohl jüngere als auch ältere Menschen betroffen. Außerdem steigt die Lebenserwartung und damit der Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung. Lifestyle-Änderungen führen zu mehr Mobilität und vermehrter sportlicher Aktivität – auch bei älteren Menschen.

Service-Seiten: Ist also nicht nur die Gelenkarthrose eine Herausforderung?
Prof. Dr. Bosch: Neben der weit verbreiteten Gelenkarthrose sind es vor allem auch Schäden und Verschleißerkrankungen an Sehnen, Bändern und Muskeln. Hier trifft auch heute noch die Aussage von Sebastian Kneipp zu: „Untätigkeit schwächt, Übung stärkt, Überlastung schadet“. Bis zu 50 % aller Sportverletzungen betreffen akute und chronische Schäden an Sehnen und Bändern. Der volkswirtschaftliche Schaden durch langwierige Behandlungen, hohe Therapiekosten und Arbeitsunfähigkeit ist enorm. Eine der größten Herausforderungen an die Orthopädische Chirurgie des 21. Jahrhunderts wird es daher sein, eine Balance zwischen den Möglichkeiten der modernen Medizin, den Kosten und den patientenspezifischen Anforderungen für die bestmögliche Therapie zu finden. Hier sind sicherlich neben Innovation auch Kompetenz und Empathie gefragt.

Service-Seiten: Ist dann immer eine Operation notwendig?
Prof. Dr. Bosch: Viele Verletzungen und degenerative Veränderungen im Bewegungsapparat können konservativ, d. h. ohne Operation behandelt werden. Oftmals ist jedoch die Heilung des verletzten Gewebes unvollständig oder stark verzögert. Die Rehabilitation ist dann sehr langwierig, wie sich auch jüngst wieder bei einigen Spitzensportlern gezeigt hat.

Service-Seiten: Gibt es Möglichkeiten, den Heilprozess zu beeinflussen?
Prof. Dr. Bosch: Der in verschiedenen Phasen ablaufende Heilungsprozess ist sehr komplex und wird durch körpereigene Botenstoffe sehr präzise geregelt. Dabei kommt den Blutplättchen (Thrombozyten) eine besondere Bedeutung zu. Sie werden nach einer Verletzung aktiviert und schütten am Ort der Schädigung Wachstumsfaktoren aus, womit der Heilungsprozess beginnt. Seit Jahren steigt daher das Interesse der Medizin an diesen Wirkstoffen im Blut. Innovative, biologisch basierte Therapieverfahren, wie z. B. körpereigenes plättchenreiches Plasma, nutzen die Heilfaktoren des eigenen Blutes bzw. der körpereigenen Blutplättchen und können so die Heilung des geschädigten Gewebes unterstützen und beschleunigen.

Service-Seiten: Früher gab es schon die Eigenblutbehandlung, was ist jetzt neu?
Prof. Dr. Bosch: Die Eigenblutbehandlung verwendet das Blut in seiner Gesamtheit. Die innovativen Verfahren gehen einen Schritt weiter. Es werden aus einer kleinen Menge Blut durch Zentrifugieren die an Wachstumsfaktoren reichen Bestandteile von den roten Blutkörperchen getrennt, angereichert und anschließend in das geschädigte Gewebe injiziert. So können beispielsweise bestimmte Verletzungen oder Verschleißerkrankungen der Achillessehne ohne Operation geheilt werden. Auch degenerative Schäden sowie Überlastungsschäden an Schulter, Ellenbogen, Knie und Fuß können damit behandelt werden. Und aktuelle Entwicklungen zeigen, dass der Einsatz körpereigener Stammzellen zur Heilung und Regeneration von geschädigtem Gewebe nicht mehr nur eine Zukunftsvision ist.

Service-Seiten: Kommen diese innovativen Therapieverfahren auch bei Operationen zur Anwendung?
Prof. Dr. Bosch: Ja, diese biologisch basierten Therapieverfahren lassen sich auch in Kombination mit einer Operation anwenden. Lag in der Vergangenheit der Forschungsschwerpunkt auf der anatomischen und biomechanisch belastbaren Refixation und Rekon­struktion von verletztem Gewebe, so wird heute angesichts der oftmals limitierten Heilungskapazität der Schwerpunkt auf biologische Verfahren verlagert. Durch einen enormen Wissenszuwachs in der Forschung wurden die Herstellung und Isolation von Wachstumsfaktoren und körpereigenen Stammzellen möglich, um so die Gewebeheilung zu unterstützen und teils auch zu beschleunigen. Diese innovative Therapie ist auch hervorragend für viele Sportverletzungen geeignet. Exemplarisch sei hier die Therapie von Kreuzbandverletzungen, insbesondere von Teilrupturen genannt.

Service-Seiten: Arthrose – ein Thema, das viele Menschen bewegt?
Prof. Dr. Bosch: Die Arthrose – der schmerzhafte Gelenkverschleiß mit Funktionsverlust – betrifft sehr viele Menschen, zunehmend auch jüngere Patienten. Neben genetischen Faktoren sind Fehlbelastungen über Jahre oder nicht ausbehandelte Gelenkverletzungen eine Ursache für die Entwicklung einer Arthrose.

Operative Therapie bei Knorpelverschleiß des Kniescheibengelenks

Service-Seiten: Was kann man dagegen tun?
Prof. Dr. Bosch: Die Arthrose ist nicht heilbar, d. h., es gibt kein Medikament und auch keine Operation, die ein arthrotisches Gelenk wieder völlig herstellt, vergleichbar zu einem gesunden Gelenk. Die Diagnose „Gelenkverschleiß“ bedeutet aber nicht immer gleich „Gelenkersatz durch eine Endoprothese“. Durchaus können auch alternative Möglichkeiten wie beispielweise die biologisch basierten Verfahren oder minimalinvasive Eingriffe für Schmerzfreiheit, Beweglichkeit und bessere Lebensqualität sorgen. Bei jüngeren Patienten wird die biologische Wiederherstellung des Gelenks favorisiert. Bei weit fortgeschrittenen Arthrosen und bei älteren Patienten sind diese Behandlungsmöglichkeiten meist nicht mehr erfolgreich.

Service-Seiten: Besonders häufig ist das Kniegelenk betroffen. Wie kann man den Patienten helfen?
Prof. Dr. Bosch: Wird der Ersatz der zerstörten Gelenkflächen mit Implantaten – einem sogenannten Oberflächenersatz – notwendig, sollte zunächst geklärt werden, wie stark ist die Arthrose, was sind die patientenspezifischen Voraussetzungen, welche Ansprüche hat der Patient und möchte er wieder sportlich aktiv sein? Gerade die ältere Generation ist immer aktiver und möchte es auch bleiben. Innovative Systeme ermöglichen heute individuelle Lösungen – eine „personalisierte Therapie“. Dabei wird beispielweise am Kniegelenk nur der Gelenk­anteil behandelt, der verschlissen ist, z. B. nur das Kniescheibengelenk oder nur die Innen- oder die Außenseite des Kniegelenks. Durch die Modularität (Baukastenprinzip) der Implantatsysteme können intakte Strukturen, die für die Funktionsfähigkeit und Koordination des Bewegungsablaufs wichtig sind, erhalten werden. Bei
Fortschreiten der Arthrose können dann die Implan­tatsysteme ggf. erweitert werden, ohne dass eine Wechseloperation mit Austausch der Implantate notwendig wird. Vergleichbar innovative Implantatsysteme gibt es auch für das Schultergelenk. Die Teillösungen sind schonender und die Rehabilitation ist oftmals schneller.

Service-Seiten: Nicht alle Patienten sind nach einer Operation zufrieden, wo liegen die Probleme?
Prof. Dr. Bosch: Die enormen Entwicklungen der letzten Jahre haben die Ergebnisse der Gelenkendoprothetik deutlich verbessert. Neben adäquaten Implantaten erfordert dies auch eine ausgefeilte Operationstechnik, die vor allem auch die Weichteile um das Gelenk – also die Kapsel, Bänder und Sehnen – respektiert und die Balance dieser Strukturen wieder herstellt. Daher ist bei der Implantation einer Endoprothese auch die entsprechende Behandlung der meist miterkrankten Weichteile wichtig. Dies gilt sowohl für die Schulter, die Hüfte als auch in ganz besonderem Maße für das Kniegelenk.

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