Artikel erschienen am 06.02.2023
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„Warum dieses Meta-Dings?“

Eine Strategie für das Neue im Metaverse

Von Dr. Gerald Fricke , Braunschweig

VUCA steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Auch das Metaverse als das neue Internet ist für viele Unternehmen eine „VUCA-Welt“. Sollten die Unternehmen wirklich eine virtuelle Umgebung schaffen, in der ihre Kunden interaktiv Produkte und Dienstleistungen kaufen? Und wollen die lieben Kunden das überhaupt?

Diese Frage ist nicht neu. 1999 fragte Boris Becker in einem berühmten AOL-Werbespot, ob er schon „drin“ sei, im Internet – und gab sich selbst die Antwort: „Das ist ja einfach!“ Bundeskanzler Helmut Kohl hatte schon 1994 in einem Interview das World Wide Web und die „Datenautobahn“ mit der Autobahn verglichen und auf die Zuständigkeiten „der Länder“ verwiesen.

Das Neue ist also nicht immer hoch willkommen und wird gerne missverstanden. Es macht Angst und sorgt für Unsicherheit. Auf der anderen Seite werden an das Neue auch geradezu religiöse Heilserwartungen geknüpft, wie etwa aus dem Cyberspace-Manifest von John Perry Barlow (1996) hervorgeht, der Blaupause der „kalifornischen Ideologie“: „Regierungen der Industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes.“

Von Unternehmen wird zuerst auf den Business Case geschaut. Es wird gefragt, ob es „sich lohnt“, bei einer neuen Technologie „mitzumachen“ oder ob es besser sei, erst einmal die Entwicklungen abzuwarten. Auch bei der Entwicklung des Metaversums. Das Metaversum, auch Metaverse genannt, soll das neue Internet zum Anfassen und Ausprobieren sein. Ein Internet in 3D, das immer da ist und keine Sperrstunden oder Betriebszeiten kennt.

Das Metaverse – das neue große Ding oder „nur“ ein Hype?

Es gibt nicht das EINE Metaverse, es ist nicht einfach nur eine neue Plattform, auch wenn das der Meta-Konzern und Facebook gerne so hätten. Es gibt viele Metaversen. Und Anbieter, die es anders nennen werden: „Web 3“ oder „Mixed Reality“, beispielsweise. Seit über 20 Jahren beobachte ich, wie die reale und virtuelle Welt zusammenwachsen. Heute brauchen wir unser Smartphone nur in Richtung Eiffelturm zu bewegen und bekommen alle Informationen über dieses Bauwerk und seinen Schöpfer Gustave Eiffel angezeigt oder vorgelesen. Bei dem Themen Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) sind wir also längst in der Phase der realistischen Nutzungen und Geschäftsmodelle angekommen.

Das Metaverse geht einen Schritt weiter: Wie wäre es, wenn wir unseren Paris-Urlaub zum Beispiel bei Google Streetview planen und dort auch auf unsere Freunde treffen, die alle schon „da sind“ – und mit ihnen gemeinsam etwas unternehmen? Das Metaverse bedeutet nicht, dass ich alleine auf Seiten im Internet „surfe“ und mit Datentöpfen kommuniziere, sondern gemeinsam mit meinen Leuten etwas erlebe: Konzerte oder Vorlesungen besuche, eine Probefahrt mache, Museen, Seminare oder Städte erkunde.

Ein Metaverse wird dann zum nächsten großen Ding werden, wenn es gelingt, Produkte, Services, Dienstleistungen und die Communities kongenial zusammen zu führen. Allgemein gilt: Plattformen sind dann erfolgreich, wenn sie tatsächlich helfen, ein soziologisches Grundbedürfnis der Menschen zu erfüllen. Second Live zum Beispiel hat kein wirkliches gesellschaftliches Bedürfnis befriedigt – und liegt heute zurecht auf dem Friedhof der Kuscheltiere begraben, als gescheiterter Internet-Hype.

Das Web und das Metaverse wachsen zusammen und werden selbstverständliche Bestandteile unserer Umwelt sein. Im besten Fall ist das erweiterte Web einfach immer da, funktioniert im Hintergrund, unterstützt uns und stört nicht weiter. Ich denke, dass es für Unternehmen wichtig ist, sich heute schon Gedanken darüber zu machen, was die Verknüpfung der Welten im Metaverse für sie bedeutet. Es geht nicht nur um Produkte, sondern auch um Zugänge und Nutzungen. Also zum Beispiel darum, nicht nur Autos oder Weltmeister-Brötchen zu verkaufen, sondern Mobilität anzubieten, oder eben das gemeinsame Frühstück zu organisieren.

Das Metaverse als neuer Ort für gemeinsames Handeln

Ich spreche allgemein von der Transformation einer industriell geprägten Massengesellschaft zu einer dezentralen, vernetzten Webgesellschaft. Diese Transformation ist von einer Gleichzeitigkeit geprägt: Auf der einen Seite kommt die Welt zusammen, auf der anderen nehmen die Gegensätze zu. Das Internet wurde 1969 von Hippies und dem amerikanischen Militär „erfunden“, um es salopp auszudrücken. Seitdem ist dieser Ort von dem Gegensatz von „ganz viel Liebe“ und „Sicherheit“ geprägt. Von Freiheit und Kontrolle, Zusammensein und Vereinzelung. Auch im sozialen Internet geht es um ein soziologisches Grundbedürfnis: Menschen wollen zusammenkommen.

„Märkte sind Gespräche“, lautete das Credo des Cluetrain Manifestos, das im selben Jahr erschien, in dem Boris Becker die zitierte AOL-Welt betrat: 1999. Heute möchten immer mehr Menschen nicht nur „drin“ sein, sondern wirklich „dabei“ sein und mitmachen. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, hier neue Dienstleistungen anzubieten und Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Die Ethik des Ausprobierens und die richtige Strategie

1968 hat der IT-Pinoeer Ivan Sutherland mit einer sehr gewagten Konstruktion einen Supercomputer mit grafischen Elementen in einer virtuellen Welt verbunden – mit einem „Head Mounted Display“, dem Vorläufer unserer Datenbrillen. Heute, ein halbes Jahrhundert später, optimieren große Unternehmen wie Siemens, Boing, Deutsche Bahn oder Airbus mit Mixed Reality ihre Produktion. Auch im Konsum ist das Metaverse angekommen: Gucci verkauft zum Beispiel ein digitales Abbild der „Gucci Dionysus Bag with Bee“ in der Metaversum-Spielplattform Roblox, Mercedes-Benz bietet das G-Modell als Non-Fungible Token an (kurz NFT), gestaltet von unterschiedlichen Künstlern.

Was bedeutet das für Unternehmen, wie lässt sich das Metaverse in der VUCA-Welt nutzen?

Ich würde drei Schritte empfehlen: Erstens, einfach ausprobieren! Anmelden und sehen, was passiert. Es kann nichts kaputt gehen. Das Metaverse ist eine Erfahrung, die wir selber machen müssen. Das Anschauen von Videos, in denen Avatare lustige Bewegungen machen, kann diese Erfahrung nicht ersetzen – genauso wenig, wie die Beschreibung eines Abendessens den gemeinsamen Restaurant-Besuch mit Freunden ersetzt. Das ist die Ethik des Ausprobierens.

Zweitens, eine Strategie für das Metaverse entwickeln: Was wollen wir da, wie können wir unsere Kunden gut unterstützen, welche Anwendungen könnten den größten Wert erzeugen. Welche Produkte eignen sich am besten für das Metaverse? Und drittens, schnell sein! Manchmal hören wir, es sei noch „zu früh“ für Metaverse-Aktivitäten; die Brillen seien zu schwer und die Avatare nicht realistisch genug. Wir beschäftigen uns damit, wenn das Metaverse „fertig“ ist. Das ist die falsche Einstellung. Denn eines bleibt auch in der VUCA-Welt sicher: Das Internet ist nie fertig.