Artikel erschienen am 01.12.2015
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Die Nächsten, bitte!

Arbeit und Beschäftigung für Menschen mit Handicap – Chancen für eine inklusive Gesellschaft

Von Manfred Simon, Sickte

„Der Nächste, bitte!“ – Patrick D. steht mit einer Suppenkelle in der Hand hinter dem Tresen der Essensausgabe des Martino-Katharineums in Braunschweig und wartet auf die Bestellung. „Ich hätte gerne die Tomatensuppe und als Dessert den Früchtejoghurt“, ordert eine Schülerin. D. nickt freundlich, gießt die dampfende Suppe ein und stellt Teller und Joghurtbecher auf den Tresen: „Bitte sehr, und guten Appetit!“ Dann schnappt er sich ein Tablett und kümmert sich darum, dass Suppe, Salate und Joghurt wieder aufgefüllt und angerichtet werden. Der 25-Jährige ist in seinem Element. Er liebt die Arbeit in der Küche, agiert selbstständig und selbstbewusst.

D. ist lernbehindert und hatte folglich in der Vergangenheit nur wenig Möglichkeiten, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden. Als er nach Neuerkerode kam, boten sich ihm viele Beschäftigungsangebote. Er suchte bewusst die berufliche Perspektive und Herausforderung – und fand beides im Neuerkeröder Berufsbildungsbereich: Seit August arbeitet er auf eine Ausbildung zum Beikoch hin. Damit wird er über ein eigenes Einkommen verfügen, kann sich Wünsche erfüllen und seinen Hobbys nachgehen. Das stärkt sein Selbstwertgefühl, macht ihn unabhängig und fördert die Entwicklung seiner Persönlichkeit.

Unterstützt und begleitet wird er von der Neuerkeröder Mehrwerk GmbH der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, die Menschen mit Handicap, Lernbehinderung und Vermittlungshemmnissen für verschiedene Auftraggeber und Kostenträger an den ersten Arbeitsmarkt heranführt. „Wir geben den Menschen Räume und Möglichkeiten, um sich zu qualifizieren und ausbilden zu lassen. Dabei unterstützen wir sie in ihrer persönlichen Entfaltung und Entwicklung sowie bei ihrer Berufswahl – immer mit Blick auf die Bedürfnisse des lokalen Arbeitsmarktes“, erklären die Geschäftsführer Marcus Eckhoff und Hans-Henning Müller. Dabei wolle man zugleich Türöffner für Betriebe sein, die Menschen mit Handicap bei sich einstellen möchten.

Die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt erfolgt mit ganzheitlicher Perspektive: In den Standorten in Braunschweig, Wolfenbüttel und Neuerkerode vermitteln Ausbilder und Meister Theorie und Praxis, während sich Pädagogen, Psychologen und Jobcoaches um das Befinden und die sog. Social Skills kümmern – egal, ob in einer berufsvorbereitenden Maßnahme, einer Ausbildung oder einer Umschulung. Praxiserfahrung sammeln die Teilnehmer in speziellen Projekten, in Betriebspraktika oder im Rahmen von Aufträgen der Industrie, wie z. B. der Lattenrostproduktion, oder in Kooperation mit dem Paläon Forschungs- und Erlebniszentrum Schöninger Speere, in dem eine inklusive Gastronomie eingerichtet wurde. Weitere Bildungsmaßnahmen halten die Arbeitsbereiche im Handel und Handwerk vor, immer mit dem Ziel, eine maximale Arbeitsmarktnähe herzustellen.

Mithilfe der vom Mehrwerk angebotenen Berufsbegleitung startet Patrick D. in das Abenteuer Arbeit. Dass sein Werdegang – wie der seiner Kollegen in den Catering-Standorten des Mehrwerks in Wolfenbüttel, Braunschweig und Volkmarode – künftig kein Einzelfall mehr sein wird, steht außer Frage. Längst zeigt die Wirtschaft in Zeiten des Fachkräftemangels Interesse daran, auch Menschen mit Handicap verstärkt in den Arbeitsmarkt zu bringen. So rief bspw. die Industrie- und Handelskammer Braunschweig jüngst das inklusive Ausbildungsprojekt „all inklusiv“ ins Leben, welches Menschen mit Handicap an eine duale Ausbildung heranführen soll. Für die beiden Geschäftsführer der Mehrwerk GmbH war dies ein längst überfälliger Schritt. Zudem sei die Einbindung der Arbeitskräfte für die hiesige Wirtschaft äußerst lukrativ: „Die Einarbeitungszeit ist auf ein Minimum reduziert, die Arbeitskräfte sind qualifiziert und erhalten auch während der Einstellungszeit ein Jobcoaching durch uns. Und natürlich verringert sich auch die Schwerbehinderten-Abgabe“, betont Müller. Zudem könnten Unternehmen von Unterstützungsmöglichkeiten (Investitionshilfen und Bezuschussungen) seitens des Integrationsamtes profitieren, wie die IHK Braunschweig in ihrer Broschüre „Inklusion – Was kann ich als Arbeitgeber/-in tun?“ erläutert.

„Trotz aller Arbeitgeberinteressen sollte keineswegs vergessen werden, dass die Firmen den Menschen eine neue Perspektive eröffnen, Teilhabe schaffen und sie so immer stärker in die Gemeinschaft integrieren. Das ist für alle Beteiligten eine Win-win-Situation“, betont Eckhoff.

Fazit

Beide Geschäftsführer sind sich sicher, dass die Einbindung von Menschen mit Handicap in den Arbeitsmarkt künftig viel stärker erfolgen wird. Der Werdegang von Patrick D. ist ein gutes Beispiel dafür und schon jetzt stehen viele weitere Arbeitskräfte beim Mehrwerk in den Startlöchern. Der Aufruf an alle Arbeitgeber lautet also: Die Nächsten, bitte!

Fotos: Klaus G. Kohn, Braunschweig

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