Artikel erschienen am 07.08.2023
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Auch Zappelphilippe werden älter

ADHS gibt es auch im Erwachsenenalter

Von Silke Groß, Königslutter

Beim Übergang ins Erwachsenenalter, er sogenannten Transition, gehen die ADHS-Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität zum Teil zurück oder verändern ihr Erscheinungsbild. Man wird erwachsenen ADHS-Patienten nicht gerecht, wenn man sich nur auf diese Kernsymptome im Verständnis des Störungsbildes bezieht. Zusätzlich unterscheidet man zwischen einem Aufmerksamkeitsdefizit mit oder ohne Hyperaktivität, ADHS oder ADS.

Um ADHS besser zu verstehen, kann man sich an dem Modell von Paul H. Wender orientieren, der 1995 die erste Monographie über ADHS bei Erwachsenen veröffentlich hat. Neben den bekannten Kriterien der Aufmerksamkeitsstörung und der Hyperaktivität beschreibt er die Symptome Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, mangelnde Affektkontrolle, Impulsivität und emotionale Überreaktionen. Mit Affektlabilität werden die raschen Stimmungswechsel beschrieben, die innerhalb von Sekunden, wie aus heiterem Himmel, kommen und auf Dauer sehr anstrengend sind. Das desorganisierte Verhalten ist die bekannte Planlosigkeit. Die mangelnde Affektkontrolle beschreibt die Wutausbrüche, und mit dem Begriff der emotionalen Überreaktion werden überschießende, situativ nicht angemessene Reaktionen auf alltägliche Stressoren gemeint.

Man wird dem Bild des ADHS besser gerecht, wenn man nicht von einem Mangel an Aufmerksamkeit und Konzentration ausgeht, sondern vom Modell einer Reizfilterschwäche. ADHS-Betroffene nehmen ihre Umgebung zu intensiv wahr und sind dann überfordert, diese ganzen Reize angemessen zu verarbeiten. Es fehlt der Filter – alles wird als gleich wichtig erlebt, und das meistens mit allen Sinnesorganen gleichzeitig. Es ist zu laut, zu viel Unruhe in der Bewegung, auch Gerüche werden häufig sehr intensiv empfunden. Auf der anderen Seite haben die Betroffenen im eigenen Verhalten gerade auch mit diesen Punkten ihre Schwierigkeiten – sie selbst sind häufig „maßlos“, zu laut, zu hektisch, zu schnell, und überfordern damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umgebung. Menschen mit ADHS können hochkonzentriert bei einer Sache bleiben- selbstvergessen, ohne Zeitgefühl, stundenlang – aber nur, wenn sie ein absolutes, persönliches Interesse haben. Normale Routinetätigkeiten, banale Alltagstätigkeiten fallen dagegen unendlich schwer und werden deshalb häufig nur auf den allerletzten Drücker erledigt.

Schon bei Kindern sind es die Folgen der Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration, die – unabhängig von der Intelligenz(!) – das Selbstwertgefühl und damit die Entwicklung der Persönlichkeit deutlich beeinträchtigen. Die langfristigen Folgen der Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration zeigen sich in z. B. in schlechteren Schulabschlüssen, häufigen Ausbildungsabbrüchen, insgesamt einem schlechteren sozialen Status. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich aus der Impulsivität – es ist das Symptom, das am meisten Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen hat.

Es ist nachvollziehbar, dass im Erwachsenenalter psychiatrische Komorbiditäten, das heißt, zusätzliche Begleiterkrankungen, in den Vordergrund treten. ADHS erhöht das Risiko, im Laufe des Lebens weitere psychische Probleme zu bekommen. Der Anteil der Komorbidität für Angststörungen, einschließlich sozialer Ängste, liegt bei Erwachsenen bei mindestens 20 %, bei affektiven Störungen (Depressionen) bei 40 % und bei Persönlichkeitsstörungen bei 35%. Mit 60 % ist der Anteil von Suchterkrankungen besonders hoch. ADHS ist ein Risikofaktor z. B. für Diabetes, Übergewicht oder Bluthochdruck, für Schlafprobleme oder Allergien und Asthma. Auch psychosomatische Störungen und Schmerzstörungen findet man häufig als Begleiterkrankungen.

ADHS gibt es in allen Kulturen der Welt, und es ist auch nicht durch den modernen Lebensstil verursacht – die medizinischen Erstbeschreibungen gibt es seit 1775. Man geht von einem sehr starken genetischen Einfluss aus, wobei es sich um eine Vielzahl von genetischen, sehr kleinen Merkmalen handelt, die in der Summe und in einem deutlichen Zusammenhang mit zusätzlichen Umgebungsfaktoren zu dem klinischen Bild führen, das wir als ADHS kennen. In psychologischen Test und in modernen Bildgebungsstudien kann man verschiedene kleine Unterschiede in der Struktur und in der Funktion des Gehirns feststellen, die aber nicht zur Diagnostik einer ADHS verwendet werden können. Die Diagnose ADHS bei Erwachsenen wird durch eine ausführliche psychiatrische Anamnese gestellt. Hier ist es notwendig, feststellen zu können, dass bereits in Kindheit und Jugend Probleme bestanden, die auf ADHS zurückzuführen sind. Hier geben z. B. Schulzeugnisse deutliche Hinweise, auch eine sogenannte Fremdanamnese durch Eltern oder Partner vervollständigen das klinische Bild. Es ist notwendig, mögliche andere psychiatrische Erkrankungen auszuschließen oder zu klären, inwieweit es sich um zusätzliche Begleiterkrankungen handelt. Körperliche Erkrankungen müssen ausgeschlossen werden, so wird auch eine Blutuntersuchung durchgeführt. In Einzelfällen kann man auch ein EEG oder eine Bildgebung des Kopfes durchführen. Auch psychologische Fragebögen kommen zur Anwendung, und aus allen Befunden zusammen erhält man die klinische Diagnose ADHS.

Man kann ADHS behandeln – und man sollte ADHS auch behandeln! Eine gute Behandlung steht auf mehreren Beinen. Am Wichtigsten gerade in der Behandlung von Erwachsenen ist es, dass die Diagnose überhaupt gestellt wird. Eine ausführliche Psychoedukation über das Störungsbild ermöglicht den Patienten, die häufig einen langen Leidensweg hinter sich haben, sich mit der Ursache ihrer Schwierigkeiten zu beschäftigen. Dies ist ein anstrengender und auch schmerzhafter Prozess. Hier können Selbsthilfegruppen sehr hilfreich sein, weil die Betroffenen zum ersten Mal erleben, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind.

Bei Erwachsenen wird in den medizinischen Leitlinien bei deutlich die Lebensqualität einschränkenden Problemen eine medikamentöse Behandlung empfohlen. Der bekannteste Wirkstoff ist Methylphenidat, besser bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin. Dieses Medikament gehört zu den ältesten zur Verfügung stehenden Arzneimitteln in der Psychiatrie überhaupt. Es ist weder ein Wundermittel noch ein Teufelszeug, als welches es häufig dargestellt wird. Im Rahmen eines individuellen Behandlungsplans mit guter fachärztlicher Begleitung kann es aber die Basis schaffen, um einen Alltag wieder auf die Reihe zu bekommen. Natürlich gibt es noch weitere Medikamente, die zur Behandlung von ADHS sinnvoll eingesetzt werden können. Selbstverständlich ist eine psychotherapeutische Unterstützung sinnvoll, umso mehr, wenn die Last der Komorbiditäten groß ist.

Es ist zu wünschen, dass die Vorurteile, mit der sich das Störungsbild ADHS – besonders bei Erwachsenen – immer noch konfrontiert sieht, weiterhin abgebaut werden. Dies gilt für die Gesellschaft, die sich hier auch die Folgekosten durch fehlende Behandlung wie z. B. Arbeitslosigkeit, fehlende Ausbildung oder Frühberentungen bewusst machen sollte. Ein großes Problem für die Betroffenen ist leider auch die fehlende Akzeptanz bei vielen Profis, die sich aus Unkenntnis oder aufgrund von Vorurteilen weigern, diese Patienten ernst zu nehmen und entsprechend der Leitlinien zu behandeln. Dies gilt umso mehr für von ADHS betroffene Familien!

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